Kurzgeschichte "Am Tisch"

Am Tisch

Sabine trägt auf.
Pilzcarpacchio. Marinierte Zucchini, gefüllt mit Parmaschinken. Ein Dip aus Mascarpone und Parmesankäse. Selbstgebackenes Brot.
Michael stellt Wasser und eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Details fallen mir auf: die lässig aufgeschlagenen Ärmel seines Businesshemdes, der Siegelring am kleinen Finger, die klobige Armbanduhr. Er dreht die Flasche so, dass wir das Etikett sehen können.
"Aromen von reifen Beeren!", möchte ich dir zuraunen. "Wunderbar würzige Nuancen, milde Tannine!" 

Mein Blick sucht deinen. Ich würde dir gern zuzwinkern und beobachten, wie deine Lippen sich zu einem winzigen Lächeln kräuseln, wenn du erkennst, dass mein Geflüster Michaels Tonfall parodiert.
Doch du sitzt neben mir, schaust geradeaus, deine Haltung kerzengerade. 

Weil dieser schreckliche Stuhl es nicht anders zulässt? Oder weil du meine Gedanken errätst?
Ich weiß, Sabine und du, ihr seid alte Freundinnen. Das steht zwischen uns und verhindert, dass unsere Blicke sich treffen.
Michael füllt die Gläser. 

"Trinken wir auf das Leben und die Freundschaft!"
"Schön, dass ihr uns mal wieder besucht. Ihr wart ja ewig nicht da!", ergänzt Sabine.
Deine Hand legt sich auf meinen Unterarm. Dir zuliebe spüle ich die Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt, mit einem Schluck Wein hinunter.
Sabine lässt sich die Teller reichen und tut uns auf. Du lobst ihre Kochkünste.

"Bine hat bei einem Slow-Food-Workshop mitgemacht, als wir letztes Mal auf Sardinien waren", antwortet Michael für seine Frau.
"Der Maikel war den ganzen Tag auf dem Golfplatz, da musste ich mich eben allein beschäftigen", erklärt Sabine fröhlich.
"Wie findet ihr den Wein?" Ohne unsere Meinung abzuwarten, lässt Michael uns wissen, wie wir den Wein zu finden haben. "Hab ich von einem Incentive in Südtirol mitgebracht. Wunderbar würzige Nuancen! Zimt, Nelken. Aromen von schwarzen Beeren. Ganz milde Tannine! Wir bestellen bald wieder; wollt ihr auch einen Karton?"
Ich schlucke. Meine Kehle ist ausgedörrt, trotz mildester Tannine.
Du antwortest.
Es tut gut, deine Stimme zu hören. Sie dringt durch das Rauschen in meinem Kopf und beruhigt mich, hält mich auf meinem Stuhl, dämpft meine Wut. Oder meinen Neid?

Der Hauptgang: Wolfsbarsch im Kräuterbett, karamellisierte Kartoffeln, Salat der Saison, Johannisbeervinaigrette.
Die Themen: der Job, das Haus, der Firmenwagen. Die nächste Urlaubsreise. Benedict, der zweijährige Sohn der beiden.
"Zum Fisch lieber einen Sauvignon, Binchen?"
Mein Mund ist immer noch trocken. Mit der Zunge schiebe ich seit einiger Zeit eine Kartoffel hin und her, ohne sie hinunter zu bekommen. Schließlich nehme ich einen Schluck Wein zur Hilfe.
Michael greift schnell sein Glas, um mir zuzutrinken.
"Gut siehst du aus, Horst. Richtig braungebrannt. Wart ihr in den Semesterferien bei Julias Eltern, Ferien auf dem Bauernhof?"
Sabine setzt nach. Versichert, dass sie dich um dein Elternhaus beneide. 

"Es liegt so schön ländlich!" 
Rät uns, auf einen ausreichend großen Garten zu achten, falls wir uns eines Tages ein Eigenheim leisten wollten.
Derweil wandern Michaels Blicke zufrieden in seinen eigenen vier Wänden umher.
Ich wage einen Seitenblick. Dein Mund ist schmal, und deine Augen funkeln wütend zur anderen Tischseite hinüber.
Warum siehst du mich nicht an? Wir sitzen inmitten einer Satire. Wir könnten uns verbünden und Spaß haben; könnten in Gelächter ausbrechen, ohne vorher ein Wort wechseln zu müssen, denn jeder von uns kennt die Gedanken des Anderen.
Doch du harrst aus und lähmst auch mich mit deiner Stoa.

Der Nachtisch: Cassata, Obstsalat, Kaffee.
Ich bin müde vom Wein und vom Essen, vom Rauschen in meinem Kopf.
"Wir haben den Benny in einem bilingualen Kindergarten angemeldet", erzählt Sabine.
"Wie weit seid ihr eigentlich mit eurer Familienplanung?" Michael stellt die Frage direkt an mich. Sein Gesichtsausdruck kommt mir wölfisch vor. Feixend bleckt er seine Zähne.
Ich zucke zusammen. Soll ich getroffen winseln oder zurückbeißen?
Du sagst etwas, doch das Rauschen in meinem Kopf ist jetzt so laut, dass ich deine Worte nicht verstehe. Ich erkenne, dass es mein eigenes Blut ist, welches mir zornig in den Ohren rauscht.
Michael hebt seine Hände. 

"Na ja, was willst du machen, wenn der Horst mit dreißig noch an seiner Doktorarbeit rumwurstelt? Einer muß die Firma ja liquide halten. Gut, dass dein Job genug für euch beide abwirft, Julchen!"
Er schenkt Wein nach und gönnt mir ein joviales Lächeln. 

"Lass uns auf deinen Erfolg trinken, Horst. Wer sich so viel Zeit mit dem Studium lässt, der kommt zwar langsam, aber gewaltig."
Ich beiße die Zähne aufeinander.
Unterm Tisch tastet deine Hand nach meiner; findet, greift, drückt sie. Und endlich spüre ich auch deinen Blick. Ich wende mich dir zu, sehe in deine Augen. Sie lachen. In deiner Stimme Provokation. 

"Wann steigt die Campus-Party?"
Ich sehe zur Uhr. 

"Da fliegt jetzt die Kuh."
Du zwinkerst. 

"Hin, abfeiern?"
"Aber so was von."
"Abflug?"
Ich grinse. 

"Jep!"
Runter den Grappa und Tschüß, ihr beiden. Wir werden uns wohl ewig nicht mehr sehen.


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