Rezension



In der Flucht - Rezension von Rainer Buck

Ein Roman voller tragikomischem Realismus
 
Der Ansatz dieses Traumwelten entsagenden Buches ist gewagt, denn welcher von Stress und Alltagsgrau eingewickelte Mensch möchte denn über Leute lesen, die im gleichen Sumpf stecken? Wer möchte Protagonisten folgen, die so widersprüchlich und manchmal nervig sind wie die eigene strebsame Cousine, der niemand gut genug ist, ehe sie selbst an den Klippen der eigenen Erwartungen Schiffbruch erleidet, oder dem früher ganz brauchbaren Kumpel, dessen Power aber unter dem Druck der Verhältnisse so gelitten hat, dass scheinbar nichts mehr mit ihm anzufangen ist?  Die erste Rolle ist hier durch Babs besetzt, eine ehrgeizige Assistenzärztin, die zweite mit Ansgar, einem in Trennung lebenden Krankenpfleger, dem man die Station, die er bisher geleitet hat, eines Tages „unter dem Hintern“ wegrationalisiert.

Arztgeschichten haben zwar durchaus ihr Publikum, aber den Pflegenotstand will man dabei nicht unbedingt so stark im Vordergrund haben; und wenn die „Abgrenzung“ des Arztes zum Patienten nicht gelingt, sollte das in Weißkittel-Epen wenigstens eine rührselige Geschichte auslösen, nicht aber den realistischen Hintergrund liefern für einen Burn-Out. Soweit die Anti-Werbung für dieses ganz ausgezeichnete Buch.

Die erstaunliche erzählerische Souveränität von Evelin-Niemeyer-Wrede macht aus den problematischen Zutaten eine Story, die den Blick für Lebensperspektiven bewahrt, nicht ins Depressive abgleitet und trotz der lakonisch anmutenden Erzählweise (im Präsenz) überhaupt nicht so klinisch kühl rüberkommt, wie es das Setting befürchten lässt. Im Strudel des Klinikalltags kämpfen Ansgar, Babs und ihre Kollegen ums Überleben der Patienten (und zugleich um das eigene) und versuchen dabei, Menschlichkeit zu bewahren. Ein bisweilen ins Sarkastische abgleitender Humor wirkt dabei als Ventil. Im Kleinkrieg mit Verhältnissen und Hierarchien werden kleine Heldentaten vollbracht und Hoffnungszeichen gesetzt. Der Leser folgt den Hauptpersonen nicht nur atemlos durch den hektischen Klinikalltag, sondern darf auch an den kleinen Fluchten Anteil nehmen. Berechnende Männer-Eroberungen von Babs, ein Bier sowie Bargespräche unter Kumpels mit Ansgar. Die Wege der beiden ungleichen Protagonisten kreuzen sich schließlich auch im Privaten. Sie landen bald darauf in einer Koje der Segelyacht von Babs‘ Vater.

Der Standesunterschied und die mitunter konträren Einstellungen des Paars liefert Stoff für einige Episoden, bei denen die Erzählerin ihren unverkrampften Humor unter Beweis stellt. Die Konflikte zwischen Babs und Ansgar sind vorprogrammiert. Hier gelingt es der Autorin durch viel natürlichen Sprachwitz und ihre unprätentiös dargebotene Eloquenz, den Leser zu fesseln und mitzunehmen. Dass die Story nicht ermüdet, liegt sicher zu einem Großteil daran, dass Evelin Niemeyer-Wrede ihre Figuren bis ins Detail lebensecht agieren lässt. Der Roman liest sich flüssig und spritzig, als wäre die Autorin durch eine Schreibschule für Bestsellerautorinnen gegangen. Nur die Lektion,  aus welchen Zutaten Erfolgsromane üblicherweise zusammengebraut werden, hat sie ganz keck geschwänzt. Vielleicht nicht ganz, denn die Fluchten der Protagonisten füllen den zweiten Teil der Geschichte aus und bieten ja doch etwas Stoff zum Träumen. Bei Babs die Yacht und der Traum von einer Weltumsegelung, bei Ansgar die Finca in der Heimat Don Quichottes. Diese Motive werden weitestgehend ohne Touristik-Verbrämung in Szene gesetzt. Als Ansgars Exfrau wieder ins Spiel kommt, wird Ansgars Finca-Baustelle zum Schauplatz für einen klassischen Showdown.    
       
Ein vielversprechendes literarisches Debüt einer deutschen Autorin, angesiedelt zwischen intelligenter Unterhaltung und zugänglicher Gegenwartsliteratur. Wer als Leserin oder Leser von Romanen eher nicht mit Märchenprinzen oder einem süßen Pony beschenkt werden möchte, könnte hier richtig liegen.


Rainer Buck

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