4. Kapitel



Frau Heise muss dringend zum Frisör. Das lässt sie sich nicht ausreden, auch wenn alle Schwestern und Pfleger der Intensivstation es versuchen.  Außerdem braucht sie neue Schuhe. Sie kann doch heute Abend nicht in solchen Schlappen zum Abtanzball gehen! Entrüstet zeigt sie auf die knallroten Pantoffeln, die vor ihrem Bett stehen.
Sie wirft die Bettdecke beiseite und hängt ihre bleistiftdünnen Beine über die Bettkante.
„Stopp Stopp Stopp! Wo wollen Sie denn schon wieder hin?“
Elke stürzt auf die Patientin zu, die schon halb aus dem Bett gerutscht ist, und bugsiert sie zurück.
„Mensch, Frau Heise“, seufzt sie und verknüpft die alte Dame wieder mit den EKG-Kabeln, die sich bei ihrem Fluchtversuch gelöst haben. „Sie können mir doch nicht immer ausbüxen. Ich hab noch andere Patienten, um die ich mich kümmern muss.“
Frau Heise schüttelt unwillig den Kopf, als Elke ihr einen Schaumstoffstöpsel in die Nase stecken will.
„Das ist der Sauerstoffschlauch, da kommt frische Luft raus“, erklärt Elke und setzt ihre Bemühungen fort.
Frau Heise schlägt ihr auf die Finger.
„Nimm deine Griffel da weg“, faucht sie die Schwester an.
Elke wird energisch. Gegen den Widerstand der Patientin platziert sie den Sauerstoffkatheter in deren Nase und klebt ihn mit reichlich Pflaster fest.
„Du Hexe!“, kreischt Frau Heise und windet sich unter Elkes Griff. „Du willst mich vergiften!“
Sie schlägt um sich, schreit um Hilfe und entwickelt eine solche Energie, dass Elke Mühe hat, sie zu halten. Eine Kollegin hört den Tumult und kommt dazu.
„Brauchst du Hilfe?“
Elke rollt mit den Augen.
„Wonach sieht das hier aus?“
Mit vereinten Kräften binden sie der Patientin die Hände fest und legen ihr einen Gurt um den Bauch, der verhindern soll, dass sie sich aus dem Bett windet. Gefesselt und bewegungsunfähig liegt Frau Heise schließlich in ihrem Bett und wimmert.
„Hol mal Christina“, bittet Elke ihre Kollegin. „So geht das hier nicht weiter.“
Sie wendet sich der Patientin zu und redet beruhigend auf sie ein, streichelt durch das wirre, graue Haar.
„Fass mich nicht an!“, schnappt Frau Heise.
Elke zuckt zurück. Sie würde der alten Dame gern erklären, warum sie im Bett bleiben muss und wozu der Sauerstoff nötig ist. Doch dazu bräuchte sie erst mal Zugang zu Frau Heises Realität. So bleibt ihr nichts anderes übrig, als neben dem Bett zu stehen und das Auftauchen der Stationsärztin zu erwarten.

„Was gibt es?“
Christina biegt mit wehenden Kittelschößen um die Ecke. Babs ist ihr, wie immer, auf den Fersen.
Elke erläutert das Problem.
„Du schreibst in die Dokumentation, dass die Fixierung nötig war, und ich zeichne gegen. Dann sind wir erst mal auf der sicheren Seite“, klärt Christina den rechtlichen Aspekt.
Damit ist Elke nicht einverstanden.
„Das ist keine Lösung. Möchtest du bei wachem Verstand ans Bett gefesselt werden?“
Christina schielt zur Patientin hinüber.
„Wacher Verstand?“, spöttelt sie.
„Hexen!“, kreischt Frau Heise in den medizinischen Disput. „Giftmischerinnen!“
„Wacher Verstand“, bekräftigt Elke. „Nur nicht in unserer Welt.“
„Dann schicken wir sie halt schlafen“, schlägt Christina vor und tritt an den Monitor, um Frau Heises Medikationsplan aufzurufen.
„Sie kriegt doch schon die bunte Reihe“, mischt Ansgar sich ein, der das Geschrei gehört hat und hinzugekommen ist, um nach dem Rechten zu sehen. „Ich glaube nicht, dass sie noch mehr verträgt.“
„Also müssen wir sie fixieren“, beharrt Christina.
Babs steht etwas abseits und verfolgt die Diskussion. Dabei hat sie die Patientin im Blick, die zwischen kläglichen Schluchzern immer wieder aufbraust und zornig an ihren Handfesseln rüttelt.
Arme, alte Dame. Klein und verhutzelt, mit wirrem Haar und wirrem Kopf, liegt sie in ihrem Bett, jammert und flucht; und strahlt doch eine Würde aus, die Babs Respekt einflößt. Sie ist über achtzig. Was sie in ihrem langen Leben wohl alles gesehen und erlebt hat?
Man kann einen Menschen doch nicht einfach ans Bett fesseln, empört sich eine Stimme in Babs’ Kopf.
Aber wenn der Mensch nicht erkennt, dass er sich mit seiner Bettflüchtigkeit selbst in Gefahr bringt?
Sie grübelt, wie sie an Christinas Stelle entscheiden würde.

Frau Heise streckt ihre Hand aus und schaut Ansgar flehentlich an.
„Richard, kannst du mich zum Frisör fahren?“
Tröstend streichelt er mit dem Zeigefinger über ihre Wange.
„Nachher, Hildchen. Guck mal, du hast ja noch dein Nachthemd an, so kannst du doch nicht zum Frisör.“
„Dann gib mir doch mal meine Sachen“, bittet Frau Heise.
Ansgar schüttelt den Kopf.
„Ich weiß nicht, welche. Warte, bis Mutti kommt.“
„Wir können Babs zum Aufpassen ans Bett setzen“, schlägt Christina vor.
Babs’ Zunge möchte in Richtung der Stationsärztin aus dem Mund schnellen. Sie beißt die Zähne aufeinander, um sich diese Respektlosigkeit zu verkneifen, äugt jedoch empört zu Christina hinüber.
Ansgar tippt sich an die Stirn.
„Sie ist PJ, kein Hiwi.“
Babs wird warm ums Herz. Wie schön, dass wenigstens der Pfleger sie ernst nimmt.
„Richard, wir müssen los.“ Frau Heise ruckt an ihren Handfesseln. „Richard, mach mir das mal ab!“
„Geht gleich los“, nickt Ansgar der Patientin zu, doch diese lässt sich nicht länger vertrösten.
„Mach das ab“, schrillt sie und zerrt mit Leibeskräften an den Gurten. „Mach das sofort ab, oder ich sag es Mutti. Hilfe! Hiiilfe!“
Ansgar reibt sich die Schläfen und schaut Elke an.
„Holen wir sie mal aus dem Bett, damit ich sie zum Frisör fahren kann.“
Babs merkt auf. Meint der das ernst?
Sie würde gern bleiben und schauen, wie die beiden Pflegekräfte das Problem lösen wollen, doch Christina eilt bereits wieder zum Zimmer hinaus. Babs nimmt die Verfolgung auf.

Etwas später thront Frau Heise auf einem Nachtstuhl, dessen funktionelle Sitzfläche mit einem weich gepolsterten Brett abgedeckt ist, und lässt sich von Ansgar durch die Gegend kutschieren. Ein blassblauer Morgenmantel schlottert um ihre Schultern, und ihre Füße stecken in weißen Antithrombosestrümpfen und den roten Pantöffelchen, die für ihren Abtanzball nicht gut genug sind.
Transportable intensivmedizinische Geräte, die Ansgar und Elke am Nachtstuhl befestigt haben, überwachen ihre Herzfrequenz, führen ihr Sauerstoff zu und versorgen sie per Dauerinfusion mit Medikamenten. Die Geräte stören Frau Heise
nicht. Sie nimmt nicht einmal wahr, dass sie genauso verkabelt ist wie im Bett. Interessiert schaut sie sich die neue Umgebung an.
Ab und zu gelingt es Ansgar, sie in seinem Büro ans Fenster zu setzen, ihr eine zerfledderte Zeitschrift in die Hand zu drücken und sie davon zu überzeugen, dass der Frisör noch Kundschaft hat und sie ein wenig warten muss. In solchen Momenten huscht er schnell an seinen Schreibtisch, um ein bisschen was wegzuarbeiten, doch besonders viel schafft er nicht an diesem Vormittag.
Frau Heise wird schon wieder ungeduldig. Sie nestelt an dem Bauchgurt herum, der sie in ihrem Gefährt sichert.
Ansgar schaut auf.
„Na, wo soll es denn hingehen?“
Für den Moment hat Frau Heise sogar in ihrer Realität die Orientierung verloren. Ängstlich und verwirrt blinzeln ihre alten Augen umher.
„Ach, Hildchen“, murmelt Ansgar und fährt sich mit zehn Fingern durch die Haare. „Wir sind wohl beide im falschen Film, hm? Was machen wir denn jetzt? Ich hab hier einen Haufen Arbeit, und gleich muss ich zur Chefin.“
Frau Heise schaut durch ihn hindurch und brabbelt vor sich hin. Ihre Versuche, sich von dem Bauchgurt zu befreien, werden energischer.
Die Tür öffnet sich. Elke steckt ihren Kopf hindurch.
„Na, kommt ihr voran?“
Ansgar zieht eine Grimasse.
„Oooch“, macht Elke und wuschelt durch seine Locken.
„Du warst ja immer noch nicht beim Frisör, und Frau Heise auch nicht.“
„Viel los“, brummt Ansgar. „Freitag eben.“
„In einer halben Stunde ist das Stationsleitertreffen“, erinnert Elke.
Frau Heise reißt und zerrt an ihrem Bauchgurt.
„Und was machen wir mit ihr?“, fragt Ansgar und deutet mit dem Kopf auf die Patientin.
„Zurück ins Bett bringen?“, schlägt Elke vor.
Er runzelt die Stirn.
„Fesseln und die medikamentöse Keule?“
„Hast du eine bessere Idee?“
„Es kotzt mich an!“, flucht er.
„Klar tut es das“, pflichtet Elke ihm bei. „Aber willst du sie den ganzen Tag spazieren fahren? Und wer soll heute Nachmittag übernehmen, wenn du Feierabend hast? Oder willst du sie mit nach Hause nehmen?“
Ansgar hört nur mit halbem Ohr zu. Er heckt etwas aus.
„Du willst dich nur vor dem Tamtam drücken“, stichelt Elke, die seine Aversion gegen die Jours fixes bei der Pflegedienstleiterin kennt. „Aber heute bist du dran. Ich war schon die letzten beiden Male da.“
„Schon okay“, nickt er. „Ich gehe hin. Und Frau Heise kommt mit.“
Elke guckt entgeistert.
„Bitte?“
„Ich nehme Frau Heise mit“, verkündet Ansgar kampfeslustig. „Sollte nicht auch den Patienten Gelegenheit gegeben werden, sich Gehör zu verschaffen?“
„Gehör Verschaffen ist gut. Sie wird Zeter und Mordio schreien.“
„Damit verschafft sie sich ausgezeichnet Gehör.“
„Aber jetzt ist Mittagszeit.“
„Jep! Ihre Schonkost nehme ich auch mit, die kann sie sich im Konferenzraum verschmatzen.“
Elke malt sich aus, wie Frau Heise passiertes Gemüse und Kartoffelpüree auf dem Konferenztisch verteilen wird, und macht ein skeptisches Gesicht.
Ansgar stupst sie an.
„Hey! Unsere kompetente Pflegedienstleiterin behauptet doch immer, die meisten Stresssituationen seien hausgemacht und durch gute Organisation vermeidbar. Also vermeide ich jetzt mal Stress und nehme Hildchen mit.“
Elke seufzt.
„Du hast eine Meise.“
„Na klar“, grinst er. „Ist das ein Wunder in diesem Laden?“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen